Ich habe den Eindruck, dass in dieser Grundsatzdiskussion eigentlich jedem klar ist, dass es eine ganz persönliche Entscheidung ist, ob man viel Geld ausgeben will, um ein 1.4/35 vor die Kamera zu bekommen. Warum die Diskussion trotzdem mit dieser Vehemenz geführt wird, verstehe ich nicht ganz.
Jeder von uns weiß doch, dass es unterschiedliche Wege zu guten Fotos gibt und dass jeder seinen eigenen Weg finden muss. Ich persönlich arbeite sehr gerne und viel mit Offenblende und viel Unschärfe/Freistellung. Allerdings verwende ich dafür lieber entweder eine lichtstarke Normalbrennweite (oder länger) oder ich gehe den anderen Weg, nehme z.B. ein 2/28 und gehe noch näher ran um die Tiefenwirkung des Weitwinkels zu erzielen. Lustigerweise besitze ich sogar ein Nikkor 1.4/35, das ich noch zu "Crop-Zeiten" angeschafft habe. Dieses verwende ich aber wiederum am Kleinbild recht wenig zum "Freistellen" sondern eher bei Low-Light. Irgendwie ist da 1.4 bei mir so eine magische Grenze: Ganz häufig habe ich auf Bühnen oder in Clubs Lichtverhältnisse wo bei ISO 3200 (an der 5DII der Punkt ab dem es kritisch wird) und f/1.4 gerade noch so akzeptable Belichtungszeiten resultieren. Aber deswegen würde ich nie auf die Idee kommen, diese Vorgehensweise als die "richtige" zu bezeichnen. Wenn jemand seine persönlichen Bildvorstellungen am besten mit einem 1.4/35 realisieren kann, dann ist das eben das richtige Objektiv für ihn.
Und damit komme ich zu dem Punkt, an dem ich Henry vielleicht richtig verstehe mit seiner Kritik: Sinnlos wird es nämlich häufig (wenngleich nicht immer) an der Stelle wo nicht zuerst die Bildvorstellung da ist und dann das Objektiv sondern umgekehrt. Wenn das Objektiv nicht als Werkzeug gekauft wird, um bestimmte Ideen umsetzen zu können sondern wenn es gekauft wird aus reinem "Lichtstärke-Hype" und dann krampfhaft nach Möglichkeiten gesucht wird, den Unterschied zu lichtschwächeren 35ern in die Fotos zu pressen. Dann resultieren häufig die 1578-sten Bokeh-Bilder, die für mein Empfinden eher etwas in Testberichten zu suchen haben als in Fotogalerien.
Bitte, um das klarzustellen, ich will diese Einstellung niemandem unterstellen, schon gar nicht denjenigen, die in diesem Thread pro 1.4/35 geäußert haben. Das steht mir ja auch gar nicht zu. Ich möchte nur verständlich machen, warum es auch negative Aspekte an solchen Objektiven geben kann, obwohl mehr Möglichkeiten zumindest auf den ersten Blick grundsätzlich besser sind. Und Hand aufs Herz: Die Versuchung, ein Objektiv wegen der hohen Lichtstärke anzuschaffen, nur aus Neugier und ohne dass man es vorher ernsthaft vermisst hat oder sich konkret überlegt hätte wofür man es eigentlich braucht, dürfte den meisten von uns auch nicht volkommen fremd sein.
Und noch eine Anmerkung zum Schluss: Natürlich hat die klassische Zuordnung von 35mm zu "Reportage" bzw. "Streetlife" eine gewisse Berechtigung. Aber das ist doch nur eine grobe Orientierung und nicht mehr. Ich habe schon eine ganze Ausstellung mit fantastischen Portraits gesehen, die allesamt mit 35mm Brennweite fotografiert waren. Und umgekehrt verwenden inzwischen sehr viele Mode-/Kosmetik-/Styling-Fotografen richtig lange Teleobjektive (2.8/300 o.ä.) für Portraits. Also auch hier gilt: Nicht jeder, der mit 35mm herumläuft, verfolgt damit den gleichen Zweck und deswegen kann es auch keine allgemeingültigen Regeln für sinnvoll und unsinnig bei der Lichtstärke geben.