Je lichtstärker ein Objektiv ist, desto mehr optische Fehler hat es. Punkt. Das ist sozusagen der erste Hauptsatz der Altglas-Bescheidwissenschaft. Ein Objektiv mit einer Blende von f/0.9 kann nicht wirklich scharf abbilden, verschmiert harte Kontrastkanten mit einem Schleier von sphärischen Aberrationen, produziert jede Menge bizarre Farbsäume und die Schärfeebene ist in der absonderlichsten Art gekrümmt. Und das ganze dann noch im Makro-Bereich, da wird es endgültig absurd. Oder?
Bis vor ein paar Tagen hätte ich diese Aussagen allesamt ohne zu zögern unterschrieben. Mit so lichtstarken Klötzen aus Röntgengeräten, TV-Kameras und Projektoren spiele ich ja schon seit geraumer Zeit herum, und man kann damit auch viel Spaß haben und zumindest interessante Bilder erzeugen. Aber rein technisch betrachtet sind das alles ziemlich Gurken, egal ob Canon, Delft, Rodenstock oder Meopta draufsteht.
Aber das hier ist ist eine andere Liga:
JML OPTICAL
64mm f/0.85
Kameraseitiger Anschluss: nicht definiert, Durchmesser der Rücklinse: 46mm
Gewicht: ca. 1100g
Gesamtlänge: 99mm
Filtergewinde: ca. 72 mm
Blende: ca. f/0.9, nicht abblendbar
Details zum optischen Aufbau unbekannt
JML Optical ist eine Firma mit Sitz in Rochester NY, die optische Lösungen als Sonderanfertigungen und Kleinserien für technische Spezialanwendungen herstellt. Wofür dieses spezielle Objektiv hergestellt wurde, ist mir nicht bekannt, aber offensichtlich ging es um die Abbildung sehr lichtschwacher, flacher Objekte im Nahbereich. Entweder Röntgenbildschirme oder irgendwo habe ich auch etwas von Oszilloskopen gelesen. Wie auch immer, hier und da findet mal ein Exemplar aus irgendwelchen Restbeständen und Ersatzteillagern seinen Weg in die üblichen Gebrauchtwarenkanäle und ein solches habe ich mir an Land gezogen und ohne Fokussiereinheit für einen Abbildungsmaßstab von etwa 1:3 an meine Nikon Z6 (KB-Format) adaptiert.
Die ersten Ergebnisse haben mich ziemlich umgehauen. Da ist nix mit Bokehcharme und "duftiger" Unschärfe. Das Ding ist in Anbetracht der Blende ein optisches Wunderwerk.
Ob man damit etwas sinnvolles anfangen kann, steht auf einem anderen Blatt, denn die Schärfeebene ist im Nahbereich logischerweise irwitzig dünn:
Und hier noch ein zweites Mal die Bestätigung: Die Schärfeebene ist nicht im Mindesten gekrümmt sondern präzise plan:
Und wenn man in die Details hineinzoomt, dann ist die Schärfe beeindruckend. Da habe ich schon dezidierte Makroobjektive gesehen, die das bei f/2.8 nicht besser machen:
100%-Ausschnitt
Und was ist mit hellem Licht und Kontrastkanten? Comaschleier? Fehlanzeige.
Das hier ist in der prallen Nachmittagssonne auf unserem Balkontisch aufgenommen:
Das ist Blende 0.85, glänzendes Metall und volle Sonne. Ich finde das unglaublich. Ihr könnt das ja mal mit einem beliebigen Altglas bei f/1.4 probieren, da erzeugt man meistens nur blauviolett-glühenden Matsch.
Ich habe noch keine Ahnung was ich mit diesem Glasklotz in fotografischer Hinsicht anfangen soll. Eigentlich gibt es im Makrobereich ja eher das Bestreben - zur Not mit Stacking - die Schärfentiefe zu vergrößern anstatt sie auf ein kaum mehr nutzbares Minimum zu reduzieren. Aber andererseits ist es einfach beeindruckend, wie man auf diese Weise Details aus einem Chaos davor und dahinter herauslösen kann. Für Insekten wahrscheinlich vom Handling zu unflexibel und für das übliche Blümchenbokeh nicht "charmant" genug, aber irgendwas besonderes kann man bestimmt mit diesem besonderen Objektiv machen. Mal schauen ob ich es noch herausfinde...